•20. April 2008 •
Ein Kommentar zum entsprechenden NZZ-Artikel vom 23. März 2008
http://www.nzz.ch/nachrichten/schweiz/schule_soll_christliche_werte_vermitteln_1.693806.html
„Der Bub kratzt sich mit dem Bleistift im wilden Haar. «Ostern? Ähm, wart . . . wart . . .»“
Dieser Trend zum Vegessen, der sich ganz offensichtlich auch im Lehrerverband manifestiert, ist eine Schande und inhärent gefährlich. Allzu oft und gerne wird aber Bildung über Religion mit Indoktrination in Religion verwechselt. Natürlich ist es von eminenter Bedeutung, die Kinder über die Geschichte des Abendlandes und über die verschiedenen Religionen zu unterrichten (ohne Bibelkenntnisse ist einem ja z.B. auch die Literatur kaum zugänglich). Historischer Ignoranz ist es auch zu verdanken, dass die Werte der Aufklärung, auf denen unsere Gesellschaft basiert, mit „christlichen Werten“ gleichgesetzt werden, s. dazu z.B. http://www.sopos.org/aufsaetze/4546c5d5cf6d2/1.html.
„In ihrer 6. Klasse hat es einen Buddhisten, zwei Muslime, ein halbes Dutzend Konfessionslose – die übrigen Kinder sind getauft.“
Das ist, wie Dawkins richtig feststellt, Kindsmissbrauch. Wie viele Marxisten, Keynesianer, Neoliberale, Humanisten, Freisinnige und SVPler gibt es wohl in dieser Klasse? Es mag Kinder muslimischer, christlicher Eltern geben. Von 10-jährigen Muslimen zu sprechen, ist absurd.
„Wenn es um Gott geht, wirken sie dennoch wie Analphabeten. Die meisten Kinder können ihre Religionszugehörigkeit nicht auf Anhieb benennen, und die tiefere Bedeutung von Ostern kennen sie nicht.“
Aber sie lassen sich einteilen in Buddhisten, Muslime, Christen und Konfessionslose, nicht wahr?
„In manchen Schulen sind die christlichen Kinder in der Minderheit. Viele Kantone haben in der Folge in den letzten Jahren den Religionsunterricht abgeschafft.“
Den sie durch historische Ignoranz ersetzt haben, die ihrerseits Anfälligkeit für revisionistischen Geschichtsunterricht und hirnverbrannte Dogmen zur Folge hat.
„Inzwischen ist die religiöse Durchmischung der Gesellschaft so weit fortgeschritten, dass die Frage nach der gemeinsamen kulturellen Grundlage des Westens wieder ein grosses Gewicht bekommt.“
Die liegt doch für jeden historisch auch nur einigermassen Gebildeten auf der Hand! Worauf basiert denn unser gesamtes Staatswesen?
„Der Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer hat vor diesem Hintergrund kürzlich ein Positionspapier verfasst. Es ist, wie Verbandspräsident Beat W. Zemp sagt, ein längst fälliger Aufruf zum Mut an alle Lehrer, den «unverbrüchlichen Kern unserer Gesellschaft» in der Schule hochzuhalten und zu vermitteln.“
„Zu den nicht verhandelbaren Grundwerten zählt der Lehrerverband etwa die Freiheit des Individuums, das Gebot der Chancengleichheit, das Prinzip des Ausgleichs zwischen Bedürftigkeit und Überfluss, die Garantie körperlicher und seelischer Unversehrtheit.“
Die genannten Werte lassen sich direkt in der Tradition der Aufkläung, der kritisch-aufgeklärten Ratio und Humanität verorten.
Hat das traditionell-orthodoxe Christentum, bevor es im 18. Jahrhundert allmählich gezähmt wurde, auch nur einen dieser „seiner“ Grundwerte konsequent geachtet?! Unterdrückung der Geistesfreiheit, totalitär-theokratische Beherrschung der gesamten Kultur, Sklaverei, Inquisition, Judenpogrome, blutige Christianisierungen, Kreuzzüge, …, Diskriminierung Homosexueller, Andersgläubiger, … Um es mit Bertrand Russell zu sagen:
You find as you look around the world that every single bit of progress in humane feeling, every improvement in the criminal law, every step toward the diminution of war, every step toward better treatment of the colored races, or every mitigation of slavery, every moral progress that there has been in the world, has been consistently opposed by the organized churches of the world. I say quite deliberately that the Christian religion, as organized in its churches, has been and still is the principal enemy of moral progress in the world. You may think that I am going too far when I say that that is still so. I do not think that I am. Take one fact. You will bear with me if I mention it. It is not a pleasant fact, but the churches compel one to mention facts that are not pleasant. Supposing that in this world that we live in today an inexperienced girl is married to a syphilitic man; in that case the Catholic Church says, „This is an indissoluble sacrament. You must endure celibacy or stay together. And if you stay together, you must not use birth control to prevent the birth of syphilitic children.“ Nobody whose natural sympathies have not been warped by dogma, or whose moral nature was not absolutely dead to all sense of suffering, could maintain that it is right and proper that that state of things should continue.
Dr. Michael Schmidt-Salomon von der Giordano-Bruno-Stiftung schreibt zu diesem Thema:
Wie stark der Widerwille gegen das neuzeitliche, freie, humane Denken in christlichen Kreisen ausgeprägt war, zeigt kaum ein Dokument so deutlich wie der berühmt-berüchtigte Syllabus von Pius IX. aus dem Jahr 1864. Der im „Heiligen Jahr“ 2000 von Johannes Paul II. selig gesprochene Pontifex verdammte in dieser Sammlung vermeintlicher „Irrtümer“ nahezu alle Errungenschaften der Moderne: Rationalismus, Naturalismus, Liberalismus, Demokratie, Trennung von Staat und Kirche. Nicht minder scharf verurteilten der Lehrentscheid des 1. Vatikanischen Konzils von 1869-1870 sowie der sog. „Antimodernisteneid“ (Dekret des Hl. Offiziums „Lamentabili“) aus dem Jahr 1907 derartige „Irrtümer der Moderne“. Erst 1961 (!) konnte sich Papst Johannes XXIII. in der Enzyklika „Mater et Magistra“ zu einer halbgaren Anerkennung der Menschenrechte durchringen. Allerdings geschah dies nicht aus religiösen Gründen, sondern als Reaktion auf den gesellschaftlichen Druck der bereits stark fortgeschrittenen Säkularisierung. Je genauer man hinschaut, desto klarer zeigt sich, dass die Idee der Menschenrechte auch heute noch mit einem Ernst gemeinten christlichen Glauben nicht zu vereinbaren ist. Deshalb ist es auch nur konsequent, dass der Vatikan bis heute die Europäische Menschenrechtskonvention nicht ratifiziert hat. Im evangelischen Lager sah (und sieht) die Situation kaum besser aus. Für einen halbwegs aufgeklärt denkenden Protestanten dürfte es kaum eine peinlichere Erfahrung geben als die Lektüre der Texte Martin Luthers. Auch wenn man die Bedeutung Luthers für die Entwicklung einer lebendigen deutschen Schriftsprache bzw. seine Leistungen in Bezug auf die Überwindung römisch-katholischer Machtansprüche nicht unterschätzen darf, so war der Reformator doch keineswegs ein Vorreiter der Emanzipation. Im Gegenteil! Im blinden Vertrauen auf die ewige Wahrheit der Bibel forderte Luther u. a. die Ermordung sog. „Hexen“ (von deren Teufelsbesessenheit er, der sich zeitlebens von dem „bösen Feind“ verfolgt fühlte, überzeugt war ), die vollständige Vertreibung der Juden (kein Haus dieser vermeintlichen Gottesmörder sollte nach Luthers Überzeugung stehen bleiben! ) sowie die gnadenlose Eliminierung der aufständischen Bauern (denen er ebenfalls vorwarf, vom Teufel besessen zu sein, weil sich diese im scharfen Widerspruch zu den Geboten der „Heiligen Schrift“ gegen die angeblich von Gott eingesetzten weltlichen Herrscher aufgelehnt hatten ). Es ist nicht verwunderlich, dass Luthers Nachfolger meist ins gleiche Horn stießen – nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart. So sind es vor allem evangelische Christen, die gegen die Evolutionstheorie und den Sexualkundeunterricht anrennen und für die Wiedereinführung der Prügelstrafe in der Schule plädieren (entsprechend dem alttestamentarischen Buch der Sprichwörter: „Wer die Rute spart, hasst seinen Sohn, wer ihn liebt, nimmt ihn früh in Zucht“ bzw. dem neutestamentarischen Brief an die Hebräer: „Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat. Haltet aus, wenn ihr gezüchtigt werdet. Gott behandelt euch wie Söhne. Denn wo ist ein Sohn, den sein Vater nicht züchtigt?“).
http://www.leitkultur-humanismus.de/entgleisungen.htm
„Die Schule, sagt Aeppli, sei nicht wertfrei, sei es nie gewesen, und es gehe heute darum, aufzuzeigen, «dass Werte eine religiöse Verankerung haben».“
Ach ja? Siehst du den Feind? Ecrasez l’Infâme!
Welcher Dummheit bedarf es eigentlich, zu proklamieren, in einer pluralistischen Gesellschaft müssten Werte eine religiöse Verankerung haben? Neben der Tatsache, dass es theoretisch unmöglich ist, Werte konsistent in Gott und Göttern zu verankern (s. Platons Frühdialog „Euthyphron“!), ist es in derartigen Gesellschaften doch doppelt wichtig, dass die Grundwerte säkular-humanistischer, weltanschaulich-metaphysisch neutraler Natur sind, so dass sie von allen nachvollzogen und geteilt werden können und keiner explizit religiösen Begründung bedürfen, die erstens philosophisch unmöglich, zweitens gänzlich unnötig (Hitchens: „Morality, human solidarity is innate in us! Do you really believe they got to Mount Sinai and then realized: „Oh, murder, theft and rape are not kosher after all!“?) ist und drittens ohnehin nur Öl ins latente Feuer giessen würde!
„Aeppli sieht, wie sie erklärt, das Papier der Lehrer auch als Wink ans Bundesgericht. Denn es wird wohl bald Klagen geben von Eltern, die aus Angst vor christlicher Unterwanderung ihr Kind vom neuen Religionsunterricht dispensieren wollen“
Habe den Lehrplan zu diesem neuen Fach gesehen. Behandelt werden alle relevanten Weltreligionen, mit besonderer Berücksichtigung freilich des Christentums. Eine Weltanschauung aber fehlt – surprise, surprise! – gänzlich: die agnostisch-atheistisch-humanistisch-säkulare.
„«Okay, er war zu lieb. Das ist es. Er war viel zu lieb.»“
Vergessen wir nicht, dass insbesondere gentle Jesus meek and mild es ist, der uns die nette Vorstellung des höllisch-ewigen Feuerofens, wo der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt, einhämmert (die zusammen mit dem absoluten Wahrheitsanspruch des Christentums konsequent zu Inquisition und Glaubenskriegen führt). Sie existiert im Alten Testament nicht (dafür erfreuen im AT genozidale „heilige“ Angriffskriege, Dschihads, das inbrünstige Herz).
Aufgeklärte Leserkommentare zum NZZ-Artikel:
Michael Stotzer (24. März 2008, 00:35)
Werte ja, christlich nein
„Die meisten Kinder können ihre Religionszugehörigkeit nicht auf Anhieb benennen“ Vielleicht weil Kinder keine Religion haben? Vielleicht wollen sie erst später entscheiden (Religion ist eine Entscheidung, nicht genetisch bestimmt).
„Zu den nicht verhandelbaren Grundwerten zählt der Lehrerverband etwa die Freiheit des Individuums, das Gebot der Chancengleichheit, das Prinzip des Ausgleichs zwischen Bedürftigkeit und Überfluss, die Garantie körperlicher und seelischer Unversehrtheit.“ Und was haben diese Werte nun mit dem Christentum zu tun? Soweit Ich weiss wurden solche Werte erst mit der Entstehung der Demokratien eingeführt. Die Bibel/Christentum sind aber viel älter. Laut Bibel dürfen untreue Ehefrauen, Schwule etc. gesteinigt werden. Sind das die Werte auf die sich Herr Zemp beruft? Hier bedarf es an Weiterbildung.
Michael Stravs (24. März 2008, 01:33)
Die Litanei der christlichen Werte
Wieder einmal der immer gleiche, falsche Rückgriff auf die christlichen Werte, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen sollen… wo doch die Akzentuierung dieser Werte als „christlich“ der Anfang des Problems ist (siehe dazu auch hier: http://varia.kilu.de/wordpress/archives/8 ) Ich bin zwar ebenfalls der Meinung, dass man die traditionellen Feste den Schülern näherbringen soll. Aber „An Ostern ist Christus auferstanden“ ist schlicht und einfach nicht mit Anspruch auf Geltung vertretbar. An Ostern FEIERN DIE CHRISTEN DEN MYTHOS, dass Jesus auferstanden ist. Das darf und soll man in diesem Sinne vermitteln können, genau wie Tell nicht als reale Person vermittelt werden muss.
Für HUMANISTISCHE Werte als Grundlage unserer Gesellschaft und einen verantwortlichen Umgang mit unserem kulturellen Erbe! Bleibt man bei der Christelei, ja, DANN werden diese Traditionen mit Garantie sterben.
[Bemerkung: So geschehen nach 391, als das Christentum zur Staatsreligion erhoben und heidnische Kulte und kulturelle Leistungen (z.B. die Olympischen Spiele, Bibliotheken etc.) verboten und vernichtet wurden. Im Anschluss daran lag beispielsweise die Wissenschaft während mehr als 1000 Jahren brach, auf ein Zeitalter geistiger Blüte folgten dunkle Jahrhunderte – kein Wunder: Wenn die absolute Wahrheit kompakt in einem Buch vorliegt, wozu, wonach noch forschen? Vielmehr ist weitere Forschung auf Gedeih und Verderb zu unterbinden, um die Wahrheit zu erhalten und auch niemandes Seelenheil zu gefährden. Ausserdem sind möglichst viele Seelen vor dem ewigen Höllenfeuer zu bewahren, was folgerichtig zu Inquisition und Glaubenskriegen, zu Folterung und Tötung von Anders- und Ungläubigen führt, wie sie u.a. von Augustinus und Thomas von Aquin begründet wurden.]
Reta Caspar (24. März 2008, 09:44)
Werte sind im Menschen verankert – nicht in der Religion
Werte mögen mit religiösen Vorstellungen verknüpft sein, setzen aber keine religiösen Überzeugungen voraus. Anthropologie und Soziobiologie liefern interessante Erkenntnisse über die Entstehung von sozialen Regeln. Die Menschenrechte wurden gegen den Widerstand derorganisierten Religion erklärt. Ethische Fragen im Rahmen eines Religionsfachs für alle zu behandeln, ist deshalb irreführend und für Religionsfreie diskriminierend.
Religion ist ein kritikbedürftiger Teil der Kultur. Grundwissen über religionsphänomenologische Tatsachen können im Geschichts- und Geographieunterricht und in den Sprachfächer vermittelt werden.
Sozialverträgliches Verhalten kann und muss die Schule in jedem Fach fördern, und der Respekt vor dem Anderen ist ein Grundanliegen jeder Art von Bildung. Toleranz als humanistisches Erziehungsziel bedeutet jedoch nicht Achtung jeglicher Meinung oder religiösen Lehre, sondern Achtung des Mitmenschen und seines Rechts auf eigene Meinung. www.frei-denken.ch
Andreas Koch (24. März 2008, 17:31)
Jetzt drehen wir völlig durch
Und als nächster Rückschritt wohl die Wiederaufelbung der Inquisition? Die Dümmlichkeit dieser Forderung zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Schweiz kontrastiert frappant mit der Tatsache, dass ein Schweizer Naturwissenschafter dieser Tage zum Stiftungsratsmitglied der in Deutschland gegründeten Giordano Bruno Stiftung gewählt wird. Der Schweizer Lehrerverband täte gut daran, sich eine Auszeit zu nehmen und in Geschichte noch einmal nachzusitzen. Erstens: Der Mensch braucht keine Religion, um ethisch zu handeln. Zweitens: Die Errungenschaften der Aufklärung sind es, welche uns den roten Faden seit nunmehr 250 Jahren vorgeben. Im Uebrigen verweise ich auf den Kommentar des Herrn mit dem rumänisch klingenden Namen weiter unten. Dem ist eigentlich nichts mehr beizufügen. Erschreckend bleibt aber die Tatsache, dass sich in unserer Lehrerschaft ganz obskure Kräfte angeammelt haben. Wehret den Anfängen!
[Bemerkung: Insbesondere wohl auf Primar- und Sekundarstufe! S. z.B. die Lehrbuch-Kontroverse um das Lehrmittel NaturWert, in das kreationistische Inhalte eingeschleust werden konnten; Primar- und Sekundarstufe stellen für Fromme offenbar ausgezeichnete Missionsgelegenheiten dar!]
Veröffentlicht in La politique, La religion
Schlagwörter: Atheismus, Aufklärung, Christentum, christlich, Gott, Identität, Identitätskrise, Islam, Lehrer, Lehrerverband, Revisionismus, Werte